Romantikdichterin aus Rochlitz


Es scheint schon eine Ewigkeit her zu sein, als ich an einem Wintertag wohl 1996 oder 1997 ein Paket mit Büchern erhielt. Absender war ein in Braunschweig wohnhafter Sachse und Heimatfreund: Rolf Baumgärtel. Da gab es einige Schätze, von denen er meinte, sie würden bei mir ganz gut aufgehoben sein: Einzelbände aus Schmidt`s Kursächsischen Streifzügen, einige Ausgaben der „Bunte Bilder aus dem Sachsenlande“ und dann eben auch ein kleines, abgegriffenes und unscheinbares Büchlein mit Gedichten, dem einzigen richtig alten Buch im Paket.
„Gedichte von Louise Brachmann, 1808“, las ich. Nach einem kurzen Blättern stand das Buch dann für einige Wochen alleine im Regal. Ich hatte wohl sowohl den falschen Tag als auch die falsche Stelle erwischt. Aber auch beim zweiten Lesen wurde es nicht viel besser. Nur ganz langsam erschloß sich dann vor mir eine Welt, die mir bis zu diesem Zeitpunkt völlig fremd war: die Welt der Romantiker. Der Schlüssel, mit dem ich dieses Buch dann scheibchenweise verstehen konnte, kam schließlich ebenfalls von Rolf Baumgärtel: eine kurze Biographie der Dichterin. Und weil diese Biographie sowohl Voraussetzung zum Verständnis ihrer Gedichte als auch zum Verständnis der Dichtkunst der Romantik ist, soll sie meine Ausführungen begleiten und ergänzen.
In Rochlitz an der Mulde erblickt am 9. Februar 1777 Louise Brachmann das Licht der Welt. Die Mutter, eine geborene Vollhard, stammt aus einer Pfarrersfamilie und unterrichtet ihre Kinder - außer Louise ein älterer Bruder und eine jüngere Schwester - überwiegend selbst. Ihr Vater, als Kreissekretär tätig, erhält dann für jeweils kurze Zeiten Versetzungen nach Döbeln und Cölleda, bis er schließlich 1787 als Geleitskommissar nach Weißenfels kommt.
Im gleichen Jahr zieht nach Weißenfels auch eine Familie von Hardenberg. Die Mutter der von Hardenbergschen Familie und Mutter Brachmann sind alte Schulfreundinnen. Kein Wunder, daß sich auch zwischen den Kindern der beiden Familien herzliche Freundschaften entwickeln. Louise Brachmann und Sidonie von Hardenberg werden zu unzertrennlichen Freundinnen.
Die beiden älteren Brüder der Mädchen - Friedrich von Hardenberg (genannt Novalis) und Friedrich Brachmann - studieren eine Zeit lang zusammen in Leipzig. Während der Ferien und nach dem Studium sorgt Novalis für die schöngeistige Bildung der beiden Freundinnen. Er zeigt sich von Louises ersten poetischen Versuchen begeistert und bringt sie zu seinem Professor nach Jena, wo er ebenfalls zwei Semester studiert hat: zu Schiller.
Wir stehen jetzt an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, genauer im Jahre 1797. Bis hierher ist Louises Leben angefüllt von Freude, Freunden und ersten Versuchen in der Dichtkunst. Friedrich Schiller, mit dem sie einige Jahre lang freundschaftlich verbunden ist, nimmt einige ihrer Gedichte in von ihm geführte literarische Zeitschriften auf, beispielsweise die „Gaben der Götter“ in den 1797 erschienenen Band 12 der „Horen“.
Lebenserfahrung fehlt ihr, der damals immerhin schon 20jährigen, allerdings zu diesem Zeitpunkt wohl noch völlig. Sie lebt behütet in ihrem Elternhaus, dichtet gemeinsam mit ihren Freunden, und muß sich um Dinge des praktischen Lebens nicht weiter kümmern. Wir springen jetzt einmal gut zehn Jahre weiter in das Jahr 1808 - das Jahr, in dem ihr schon erwähnter Gedichtsband erscheint. Und dieser Band enthält ein Gedicht mit dem Titel „Der Glaube“. Wenn wir uns die letzten vier Zeilen dieses Gedichtes (Orthographie und Satz auch bei allen nachfolgenden Auszügen im Original) vor Augen führen, erhalten wir - ohne ihre Biographie der letzten zehn Jahre bereits zu kennen - schon eine Vorahnung ihrer Entwicklung:

Und glänzt auch nach dem Kampf auf Erden,
Mir keiner Zukunft Morgenlicht,
Dies Herz, vernichtet kann es werden,
Doch Euch entsagen kann es nicht.

Wenn wir alle ihre schwermütigen Gedichte in die richtige Reihenfolge bringen könnten, dann hätten wir vermutlich ihren eigenen Lebensweg der Jahre 1797 - 1822 vor uns. Louise selbst schrieb später einmal, daß alle ihre Gedichte Leichensteine für ihre Freunde seien. Auf alle Gedichte trifft dies sicher nicht zu, aber auf viele schon. Was war geschehen? Das erfahren wir in einem Gedicht mit dem Titel „Der Johannistag“, dem Leichenstein für ihre Mutter, aus dem hier der 7. Vers genügen mag:

Und immer wieder kehrt der frohe Reigen;
Und immer kommt das schöne Fest zurück;
Ich hör’ empor die süßen Lieder steigen,
Die holden Kränze lächeln meinem Blick;
Nur rings um E u r e Stätte wohnet Schweigen,
Ihr Frühverblühten, meines Herzens Glück!
Und ewig deckt für mich ein düstrer Schleier
Des schönen Festes holde Rosenfeyer.

Ein jeder kennt wohl den Schmerz, wenn der Tod geliebte Menschen von uns reißt. Und der Sensenmann hielt in Louises Umgebung reichlich Ernte. Den Auftakt zum großen Sterben markieren hier Sophie Kühn, die Geliebte von Novalis, sowie dessen Bruder Erasmus im Abstand von nicht einmal fünf Wochen im Frühjahr 1797. Bis zu Schillers Tod im Frühjahr 1805 sterben dann noch, und diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, Novalis selbst, seine Schwester und Louises Freundin Sidonie, Louises Eltern, zahlreiche weitere Geschwister beider Familien und zuletzt auch Schiller. Und als, außer ihr selbst, fast niemand mehr da ist, der in ihrer Umgebung sterben kann, kommen die napoleonischen Truppen: Denunziationen, Verhaftungen, Hinrichtungen, Schlachten, Lazarette und am Ende eben immer wieder der Tod. Er begegnet uns beispielsweise auch in ihrem Gedicht „Der sterbende Krieger“, den sie in den ersten vier Zeilen (auf dem Schlachtfeld) sprechen läßt:

Ich bin allein am öden Ziele,
Die Sterne schauern kalt herab,
Der Nachtgefährten hab’ ich viele,
Doch alle schweigen wie das Grab.

Wer in der Blüte seiner Jahre steht, verliebt sich natürlich auch. Für Louise endet eine dieser Beziehungen im Jahr 1800 fast tödlich: sie springt aus einem Fenster und überlebt nur durch Zufall. Später dann, als sich ihr Blick auf ihr Leben immer mehr rückwärts wendet und verklärt, wird auch ihre Liebe ein Opfer dieses Blickes. Die romantisierende Heldenverehrung, die Empfindsamkeit stellen ihr nicht nur ein Bein. Kaum ist sie von der hoffnungslosen Liebe zu einem verheirateten französischen Wundarzt im Jahre 1806 genesen, türmen sich um 1812/13 neue Berge auf. „Die Lage ihres Wohnortes an einer der damaligen Hauptmilitärstraßen führte ihr jetzt abermals mehrere Bekanntschaften mit jugendlichen, wie sie von romantischem Heldensinn begeisterten Männern zu, die aber alle nur die Zahl ihrer so grausam getäuschten Hoffnungen vermehrten und sie daher immer unglücklicher mit der Welt und sich selbst zerfallen machten.“, so ihr Chronist.

Eine Sprache möcht’ ich neu erfinden,
Auszudrücken all das tiefe Weh’,
Das sich regt in meines Herzens Gründen,
Wenn ich vor und wenn ich rückwärts seh.

„Abschied vom Vaterlande“ heißt das Gedicht, in dem sie selbst diese Zeilen spricht. Die Liebe zu einem in der Völkerschlacht bei Leipzig gebliebenen französischen Offizier läßt sie ihren Lebensmut verlieren, zumal sie sich auch am Nervenfieber angesteckt hat. Nur einem Freund gelingt es damals, sie durch die Nötigung zur Nahrungsaufnahme zum Leben zu zwingen. Im Jahre 1820 kommt es mit einem verwundeten preußischen Offizier sogar zur Verlobung, die sie selbst jedoch wieder auflöst. Aber lassen wir sie selbst zu Wort kommen:
„Einige von ihnen ehrten mich durch den Antrag ihrer Hand; - aber - und hier war der erste Abweg vom rechten Pfade - ich hörte weniger auf die Stimme meines Gefühls, das sich wohl zu einem oder dem andern biedern, liebenden Jünglinge hingeneigt, als auf meine Fantasie, die in Idealen von Vollkommenheit ...“. Hier bricht die Notiz ab, die erst nach ihrem Tode bei ihren Unterlagen gefunden wurde. Gefangen in einer Schweinwelt, in der es echte Ritter gab, die zu Millionen auf Napoleons Schlachtfeldern verbluteten. Wer weiß, wie oft sie selbst auf einem solchen Feld stand, und einem geliebten Herzen den folgenden „Leichenstein“ setzte (auch im Original „Helena“ - und erneut offenbar von ihr selbst erlebt - zwei direkt aufeinander folgende Verse):

Dämmernd schwebte vor des Mondes Strahle
Weißer Wolken leichter Nebelflor,
Aber jetzt verklärt mit einem Male
Tritt er licht aus seiner Wolke vor.

Hell wird nun das öde Feld der Leichen;
Eines jungen Kriegers Leichnam ruht
Dicht vor ihren Fuß gestreckt, mit bleichen
Wangen, und mit Locken voll von Blut.

Ihre Dichtung scheint auch eine gewisse Vorbildwirkung gehabt zu haben. Die „Erinnerung“ des 1791 geborenen Theodor Körner beispielsweise ist in Stil und Inhalt dem von Louise nahezu identisch. Mit ihm stand sie auch in Briefkontakt, und irgendeines ihrer Gedichte stellt vielleicht seinen Leichenstein dar.
In zahlreichen der seinerzeit so beliebten Almanache und Literaturzeitschriften steht ihr Name neben denen von Goethe, Schiller, Seume, Fouque, den Gebrüdern Schlegel, E.M. Arndt oder E.T.A. Hoffmann. Eigentlich ist sie, wenn man es so sagen darf, berühmt, zumal sie zu den wenigen dichtenden Frauen dieser Zeit gehört. Wohlstand und Glück jedoch kennt sie dennoch nicht.
Damit scheint hier der rechte Platz, einmal wenigstens auszugsweise die Personenbeschreibung Louises wiederzugeben, die Prof. Schütz, der sie über 20 Jahre kannte, in seiner Biographie aufführt, und die auch im wesentlichen von der Dichterin Caroline Pichler bestätigt wird.
„Sie war die Liebe, Güte und Milde selbst. ... Einfach, natürlich und sittig, wie ihr ganzes, von Ziererei so völlig entferntes Wesen, war auch ihr Anstand und ihre, oft bis zur wirklichen Vernachlässigung putzlose Kleidung. ... Zu den vielen Gaben, die das Glück ihr fehlen ließ, gehörte auch die Schönheit. Ihre Gestalt war klein, mit einer nachlässigen Haltung verbunden, und im Mißverhältnis zu der Länge ihres Kopfs wie der Männlichkeit ihrer Gesichtsbildung; und so erschien ihr ganzes Aeußere in keiner Hinsicht anziehend oder auch nur Aufmerksamkeit erregend, fast ohne alle Bedeutung. Aber unter ihrem lichtbraunen Haar, das sie kunstlos gescheitelt und aufgeflochten trug, blickten ein paar sanfte, schwärmerische blaue Augen hervor, in denen sich ihre schöne Seele eben so treu, klar und offen spiegelte, als in den Werken ihres Geistes.“
Die „Werke ihres Geistes“ sind es, die sie überleben lassen. Die Verleger kaufen zwar alles, zahlen aber kaum etwas. Und so gibt es von ihr neben den Gedichten auch Erzählungen oder dramatische Stücke. Freilich sind das nun Richtungen, die ihr nicht besonders liegen. Ihre Stärke ist die Lyrik, die bei ihr so dominiert, daß ihr, wie es in einem anderen Nachruf steht, „jeder Versuch, aus dem ihr von der Natur angewiesenen Kreise herauszutreten und in einer anderen Sphäre bildend zu werden, mißlingen mußte.“
Das heißt allerdings nicht, daß ihre Erzählungen und Novellen nicht auch lesenswert wären. Besonders gilt dies für die Erzählung: Das Bild. In der „Klotilde“ beschreibt sich die Dichterin vermutlich selbst, wie ihre Freundin Caroline Pichler in einer Nachricht zu ihrem Tode mutmaßt. Auch ihr Gedicht „Klotilde“ dürfte eine Beschreibung eigener Erlebnisse darstellen.
Wohl von mannichfachen Wunden
Ist mein Herz zum Tode matt.
Und wo werd’ ich denn gefunden,
Als an letzter Ruhestatt? -
Doch auf meines Grabes Mitten
Schreibe man nach Kämpfer-Art:
Daß ich treu den Kampf gestritten
Treu und mutig ausgeharrt.

Ihr wenige Jahre vor ihrem Tode entstandener „Trostspruch“ steht sicher als ein Wunsch von Louise, er ging aber leider so nicht in Erfüllung. Aus vielen ihrer Gedichte wird deutlich, daß sie nur zu gern das Schicksal ihrer Freunde geteilt hätte. Wie mag sie wohl einen Johann Gottfried Seume oder einen Theodor Körner - mit beiden stand sie bis zu deren Tode in Kontakt - um deren frühes und doch stolzes Ende beneidet haben. Aber nicht einmal das heftige Nervenfieber, mit dem sie sich in den Lazaretten 1813 angesteckt hat, und auch nicht ihre darauf folgende Verweigerung der Nahrungsaufnahme lassen sie sterben. Der Tod will nicht zu ihr kommen, und so begibt sie sich Anfang September 1822 nach Halle, um ihn hier zu suchen und im zweiten Anlauf dann auch zu finden.
Zuvor müssen wir jedoch eines Ereignisses im Weißenfelser Hause des Legationsrathes Panse gedenken, in dem ihr durch Zufall nur zwei Monate vor ihrem Tode das nachfolgende Gedicht vorgetragen wurde.

Lokal-Charade von drei Silben

Die beiden ersten bilden einen Namen,
Den einst ein deutscher Jüngling trug,
Aus dessen Brust die schönsten Lieder kamen,
Sobald er klagend in die Saiten schlug.
Sein Schwanenlied drang sehnend durch die Lüfte;
Da nahte sich der stille Gott der Grüfte.
Er wies den Sänger durch das dunkle Thor,
Und seine Klage tönt nicht mehr aus seiner Brust hervor.

Das letzte nennt das erste aller Werke,
Die zur Bequemlichkeit der Mensch gemacht,
Der müde Pilger sucht, daß er sich stärke,
Und freut sich, wenn es ihm entgegen lacht.
Doch wehe, trägt’s dem Schiffer auf den Rücken
Die Winde weh’n, der Kahn zerschellt in Stücken.
Und prüffst du seines Glückes wunderbaren Lauf,
Herunter kommst Du oft anstatt hinauf!

Tief aus der Saale Wellen steigt das Ganze
Auf schroffen Felsen, den der Wind umrauscht,
Und wo den Frühling oft im Silberglanze
Der volle Mond am Dornenbusch belauscht.
Noch heute geht, umhüllt die Nacht die Fluren,
Des Sängers Schatten die geliebten Spuren.
Und ist das Ganze blos der letzten Silbe gleich,
So wird’s durchs erste Paar doch erst bedeutungsreich.

Die Wirkung, die dieses Gedicht, auf Louise hat, verdient einer Erwähnung. „Das ist die Höltybank unter Halle! rief Louise, und ihr trübes Auge nahm einen hellen Glanz an ... Der Umstand, daß der jugendliche Dichter Hölty in der Sage jener Gegend fortlebt, ergriff sie auf eine Art, die keinen Zweifel über den Wunsch einer gleichen Unsterblichkeit Raum ließ, und unwillkürlich ihre Lippen bewegte, die Worte zu wiederholen:

Noch heute geht, umhüllt die Nacht die Fluren,
Des Sängers Schatten die geliebten Spuren.

... Später wandte sie sich ab und sagte scheinbar gleichgültig: Es ist ein guter Einfall, daß man jenen Felsen die Hölty-Bank genannt hat.“
Ludewig Heinrich Christoph Hölty, der damals berühmte Traumbilddichter. Vielleicht begegnen wir hier dem Ursprung der romantischen Dichtung. Er starb wie Novalis sehr früh, noch vor Vollendung seines 28. Lebensjahres, im September 1776 an Tuberkulose. Eine Parallele zum 2. Vers seines Traumbildes finden wir auch bei Louise, am Ende ihres Gedichtes „Das Kind und die Freude“.
Ihr vielleicht letztes Gedicht, „Der Einsame“, schickte sie kurz vor ihrem Tode dem Verleger Kind mit der Maßgabe, es in das „Taschenbuch zum geselligen Vergnügen“ des Jahrganges 1824 aufzunehmen, was auch so geschehen ist. Vier Zeilen daraus, in denen sie die Liebe sucht und findet:

„Du allein, du wirst mich nicht vergessen!“
Rief ich. - Aber Dunkel sank herab;
An die Myrten reihten sich Cypressen,
Und ich fand, - ich fand der Liebe Grab!

Louise in Halle. Liest man ihre Biographie, scheint es fast, als sei ihr Abschied von der Welt schon vorher beschlossen gewesen. Zurückgezogen verfällt sie mit jedem Tag mehr in die Schwermut, die wohl von Nöten ist, um von einer Brücke in den Tod zu springen. Beim ersten Versuch am 9. September sehen Passanten, wie sie händeringend am Ufer eines Armes der Saale auf und ab läuft. Die Polizei nimmt sie zunächst in Gewahrsam, bis sie einen Brief an ihren damaligen Gastgeber schreibt. Dieser Gastgeber, Prof. Schütz, er verfaßte die diesem Beitrag zu Grunde liegende Biographie, befreit sie aus der mißlichen Lage. Danach bemühen sich ihre Freunde, sie zur Rückkehr nach Weißenfels zu bewegen. Eine vergebliche Mühe. Also sucht man ihr ein neues Quartier im Hause des Professor Schilling, bei dem gerade zu der Zeit eine der ältesten Freundinnen von Louise, eine Frau von Wille, zu Gast ist.
Aber der Sand in ihrer Lebensuhr reicht nur noch für acht Tage. Am 17. September Abends gegen zehn Uhr begibt sie sich aus dem Kreise der Familie, mit der sie noch an jenem Abend einen Spaziergang auf den ihrer Wohnung nahen (an einem Arm der Saale liegenden) Jägerberg gemacht hat, scheinbar ganz ruhig, und von ihrer Freundin begleitet, auf ihr gemeinschaftliches Schlafzimmer. Diese verläßt noch einmal für eine halbe Stunde das Zimmer, und als sie zurückkehrt, ist Louise verschwunden.
Die in die äußerste Bestürzung versetzte Familie bietet nun alle Mittel der Nachforschung auch außerhalb des Hause auf, aber vergeblich. Erst am 24. September Abends gegen 8 Uhr wird ihre Leiche unterhalb der, eine Viertelstunde vor der Stadt, neben einer Ziegelhütte gelegenen Steinmühle, in dem schon erwähnten Arm der Saale schwimmend, von Spaziergängern entdeckt. Ihre Identifizierung am folgenden Morgen ist fast nur an Hand ihrer Bekleidung möglich. An ihrem linken Arm hängt ein noch ganz neuer Mauerstein (wahrscheinlich aus der Ziegelhütte genommen, bei der eine kleine Brücke über jenen Saalearm führte, von welcher sie sich mutmaßlich herabstürzte), mit einer langen starken Schnur, die vielfach um den Stein, den Arm und dann noch über der Brust hin um den Hals geschlungen und verknüpft ist. Noch am Abend jenes Tages wird die letzte Überlebende der Frühromantik auf dem Halleschen Kirchhof still beerdigt.
Am Ende ihres Lebenskreises sollen vier Zeilen eines Mannes stehen, den auch Novalis kannte und verehrte, der in Halle ebenfalls seine Spuren hinterließ und dessen Werke mit Sicherheit auch zu Louises Lektüre in jungen Jahren gehörte: Gottfried August Bürger. Es ist der letzte Vers seines wohl berühmtesten Gedichtes, der Lenore:

Geduld! Geduld! Wenn’s Herz auch bricht!
Mit Gott im Himmel hadre nicht!
Des Leibes bist du ledig;
Gott sei der Seele gnädig!

Wie sehr sich ihre Form der Dichtung bereits zum Zeitpunkt ihres Todes überlebt hat, zeigt die Tatsache, daß sich „im neuen Coversationslexikon“ wohl des Jahres 1824 auch nicht die kleinste Nachricht zu Louise Brachmann befindet.
An der Art ihres Todes kann es nicht gelegen haben. Ein Heinrich von Kleist beispielsweise, gleicher Jahrgang wie Louise und heute noch wohlbekannt, erschießt sich schon 1811 aus Schwärmerei für eine Frau, die er nicht einmal liebt. Wie im Tode, hatte er auch im Leben Louise eines voraus - er war bereits mit 11 Jahren Vollwaise. Die Ursache dafür, daß Louises Werk schon vor ihrem Tode beginnt in Vergessenheit zu geraten, liegt vermutlich woanders. Die Verse einer Dichterin der Freiheitskriege sind in einer Zeit, da die deutschen Lokalfürsten sich verzweifelt bemühen, in ihren Landen die vornapoleonischen Zustände wieder herzustellen, unerwünscht. Körner und Kleist starben zur „rechten Zeit“, sie nicht.
Eine letzte Frage bezieht sich auf ihr Grab. Fast zwei Jahre nach ihrem Tode, im Mai 1824, gab es mit Sicherheit noch keinen Grabstein, sondern einen „von hohem Rasen überwachsenen Grabhügel“. Ihre Freunde waren jedoch dabei, Mittel zu sammeln, um das Grab mit einem „zwar nicht prachtvollen, doch des gefeierten Namens der Verewigten auch nicht unwürdigen Denkmales schmücken zu können“. Da es keine spätere Gesamtausgabe von Louises Werken und auch keine Ergänzungen biographischer Natur mehr gibt, fehlt es an jeder Nachricht, ob dieses Vorhaben umgesetzt wurde. Wenn doch, ist es durchaus möglich, daß auf dem Stein nicht ihr Name, sondern das Wort „Sappho“ steht bzw. stand.
Sicher ist indes, daß der 225. Geburtstag der unglücklichen Dichterin im Jahr 2002 sowohl an ihrem Geburtsort Rochlitz als auch an ihrem Sterbeort Halle offenbar spurlos vorüberging. In Weißenfels erinnert neben der Ausstellung im Museum Schloß Neu-Augustusburg auch eine Straße an Louise Brachmann. Sollte etwas ähnliches - ob nun Straße, Brücke oder Stein - nicht in Halle oder Rochlitz ebenfalls möglich sein?

Des Ritters Heimkehr

Der Berge Schatten neigen tief
Ins stille Tal herein;
Die Sonne sinkt, der Laut entschlief
Im schwach bewegten Hain.

Nach manchem Kampf im fremden Land
Betret’ ich diese Flur;
Mir blieb ein einzig teures Band
Im öden Leben nur.

Bald werd’ ich dich, mein Bruder, sehn,
Du Freund aus beßrer Zeit!
In Lieb’ an deiner Brust vergeh’n,
Aufs neu der Ruh geweiht.

Dann kommt der Kindheit Traum zurück,
Wir grüßen Strom und Wald!
Mein Herz genest an deinem Blick,
Geliebter Theobald!

Was naht im Bergesschatten dort!
Ein Zug durchs stille Tal?
Es zieh’n sich Krieger langsam fort,
In dunkler Rüstung Stahl.

Der Sonne letzter Schimmer bricht
An ihren Panzern sich;
Doch - schwarzer Flor des Grams umflicht
Sie ernst und schauerlich?

Was ist es doch, daß sich mein Herz
So wunderbar erhebt?
Daß mir ein ahnungsloser Schmerz
Durch alle Nerven bebt?

Da sieh, in ihrer Mitte zeigt
Ein schwarzer Sarg sich mir!
Und traurig drüber hingeneigt
Ein wallend Kriegspanier!

„Mag nimmer doch ein menschlich Herz
Sein Gut zu heiß umfah’n!
Zu hoch ist für den ird’schen Schmerz
Des dunklen Schicksals Bahn!“

So tönt ihr Lied. - Die Felsen sehn
So schaurig mir herab!
O sagt, ihr edlen Krieger, wen,
Wen tragt ihr hier zu Grab?

„Es ist der Führer unsrer Schar.
In vaterländ’scher Schlacht,
Im Kampfe wo er Sieger war
Umfing ihn Todesnacht.“

„Und seinen Namen? - sagt ihn mir -
Schmückt’ ihn der Anmut Zier?
War hoch sein edler Wuchs und kühn?
O sagt den Namen mir!“

„Sein Antlitz war dem Feind bekannt,
Im blut’gen Lanzenwald;
Wir tragen den der Ruhm genannt, -
Den tapfern Theobald.“

Mag nimmer doch ein menschlich Herz
Sein Gut zu heiß umfah’n!
Zu hoch ist für den ird’schen Schmerz
Des dunklen Schicksals Bahn!

Noch tiefer schwieg Gebirg’ und Land,
Noch schwärzer ward’s im Tal,
Und an der Berge Gipfeln schwand
Der letzte Sonnenstrahl.

Veröffentlicht von mir im Jahr 2003 in: Gedichte von Louise Brachmann (noch bestellbar)